Gedenken - Fürbitte - Handeln

Empfindungen der neuapostolischen Gemeinde in Halle an der Saale nach den schrecklichen Ereignissen am 9.Oktober.

Terror,  Schusswaffengebrauch, Todesopfer? Wir kennen es aus der Beobachtung, der Ferne. Wir nehmen Anteil, irgendwie und ganz ehrlich, mit abnehmender Präsenz der Ereignisse in den Medien schwindet da und dort auch unsere Wahrnehmung: „Das passiert hier ja nicht!“

Und plötzlich ist man mittendrin. Ein ungutes Gefühl, wenn man durch Medien, WhatsApp oder Telefon plötzlich informiert wird: „Wo bist du? Geht es dir gut? Wie kommst du nach Hause? Wie viele Tote? Sind die Täter gefasst?“ Fragen, die Unsicherheit und aufsteigende Angst zum Ausdruck brachten.

Plötzlich gewinnen andere Dinge an Bedeutung, als das momentan Beschäftigende. So ging es wahrscheinlich vielen Hallensern und anderen Menschen, die das Geschehen über die offiziellen Medien verfolgten. Warnungen ergingen, sichere Orte nicht zu verlassen oder aufzusuchen. Die starke Präsenz der Sicherheitskräfte signalisierte Bedrohung und Schutz zugleich. ...Wir kennen das Ende der Ereignisse vom 9. Oktober 2019, einem Mittwoch.

Vor dem Gottesdienst am Abend stand die Frage nach der Sicherheit der Glaubensgeschwister.  Schnell kam man mit der Kirchenleitung überein, die Geschwister nach Möglichkeit zu kontaktieren und ihnen zu empfehlen, den Anweisungen der Behörden zu folgen und zu Hause zu bleiben. "Das sollte doch wohl klar sein", mag mancher denken. Entscheidungen waren zu treffen, alles zu einem Zeitpunkt, wo die Entwicklungen der Ereignisse nicht absehbar waren. Was ist mit jenen, die wir nicht erreichen? Die Kirche blieb offen! Ein Gebet kann ein "Hort" der Gemeinschaft sein, ein "Zeitraum" der Fürbitte. Dieser "Hort", diese "Zeit" sollte angeboten werden. Sechs Christen waren letztendlich zusammen, Durchreisende wie Ortsansässige und hielten eine kurze Andacht.

Der Anschlag auf die jüdische Gemeinde, der Mord an der Frau und dem jungen Mann beschäftigen die Stadt, unser Land, die ganze Gesellschaft. Das dies den Gottesdienst des darauf folgenden Sonntags prägen wird, war nicht nur zu erwarten, sondern eine logische Konsequenz. In unserer Kirche spiegelt sich auch die Gesellschaft wieder.

Viele Überlegungen gingen dem Gottesdienst voraus: Was ist angemessen, was notwendig? Die Fragen erscheinen im Rückblick unnötig. Aber wer ist schon geübt im Umgang mit solchen Situationen. Glaubensschwestern und -brüder wurden eingebunden. Die Lehrkräfte fanden sich parallel mit den schulpflichtigen Kindern zusammen, um einen Raum für Gespräch zu bieten. Nicht aufdringend,  sondern so, wie es die Kinder brauchten.  Der Gottesdienst war geprägt von Matthäus 13, 24 – 26, dem Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen. Die nachfolgenden Gedanken können den Gottesdienst nicht annähernd wiedergeben. Aber sie sollen berichten und können erinnern.

Da wo guter Samen gesät ist, kann auch Unkraut wachsen. Wie damit umgehen? In Aktionismus verfallen, ausreißen, entsorgen? Gefährliche Formulierungen in unserer Zeit. Der "Hausherr" behielt die Ruhe.  Jesus Christus wird seine Kirche bewahren! Ein Grund zur Sorglosigkeit, für gerechtfertigtes Dessinteresse? Worte wie Zivilcourage fielen. Ein Christ wird immer wieder darin gefordert sein, wo er seinen Glauben lebt. Jesus Christus bietet in seinem Evangelium  immer wieder Grundlagen, damit das Gute wachsen kann. Wir sehen die Sünde, aber können die Schuld nicht beurteilen. Wir sehen die gute Tat, kennen aber nicht deren Motivation. Beides entzieht sich unserem Urteil. Es liegt in SEINER Hand! Und dennoch heißt es: "Liebet eure Feinde". Mit Blick auf die Ereignisse, eine kaum zu ertragende Aufforderung.

Mancher Gedanke wurde noch bewegt. Vor allem die Opfer, deren Hinterbliebene, die jüdische Gemeinde, Leidtragende wurden in den Mittelpunkt gerückt. Zu letztgenannten gehören wohl auch die Eltern des Täters. Wir wollen sie und andere, die unter der Tat des Täters leiden, nicht ausgrenzen. Getragen waren die Gedanken vom Glauben, dass Gott unser Vater allen nahe sein kann, getragen von der Hoffnung und Fürbitte, dass Opfer, Hinterbliebene und Betroffene  durch Menschen in ihrem Umfeld Begleitung erfahren. Eine Begleitung, die weit über die Zeit des öffentlichen Interesses hinausreicht.  Wie nehmen wir ähnliche Aufgaben an?

Erinnert wurde an die Mahnwache in der Stadt, die am "Geoskop" stattfand. Ein Ort auf dem Marktplatz, an dem eine geologische Besonderheit betrachtet werden kann:  die "Hallesche Marktplatzverwerfung". Deren Entstehung war durch "Unruhe", durch Erdbeben gekennzeichnet. Und dennoch entstand "Gutes" daraus. Infolge der geologischen Konstellation konnte Salz gewonnen werden. "Gutes" entstand aus der Verwerfung. Wir erleben heute "Verwerfungen", die durch "Unruhe" gekennzeichnet sind. Wie gehen wir damit um? "Ihr seid das Salz der Erde", heißt es. Eine Chance, uns mit unserem Christsein Entwicklungen in heutiger Zeit entgegenzustellen, indem wir nach dem Evangelium Jesu leben. Jeder mit seinen Gaben.

Die Gemeinde wurde zu einem Gedenken aufgefordert. Die Kinder kamen, brachten Lichter, die sie neben die beiden für die Opfer aufgestellten Kerzen abstellten. Es folgte ein Fürbittgebet - für die Opfer, die jüdische Gemeinde und alle Betroffenen.

Vor dem Heiligen Abendmahl wurde an den besonderen Feiertag im jüdischen Glauben - Jom Kippur, den Versöhnungstag - erinnert. Die Sünde wurde verbannt, "durch einen Mann, der bereitsteht" (3. Mose 16, 21). Jesus Christus stand für uns bereit und überwand das Böse. Er ist das Vorbild für uns heute, Hass und Ausgrenzung zu überwinden. Wir alle können unsere Konsequenzen daraus ziehen.

Am Ende des Gottesdienstes wurde die Gemeinde eingeladen, im Gedenken an die Ereignisse den ökumenischen Gottesdienst am Montag, den 14. Oktober um 17.00 Uhr, in der Marktkirche zu besuchen.